Zweites Gesicht

Unter dem so genannten „zweiten Gesicht“ versteht man keine anatomische Eigenheit nach einem gelungenen Facelifting, sondern die Fähigkeit einer Person, hellsichtig oder hellfühlig zu sein. Die Rede vom „zweiten Gesicht“ ist eine alte Ausdrucksform, die im deutschsprachigen Raum schon seit dem Mittelalter existiert und darauf hinweist, dass das „Gesicht“ – wörtlich nicht der Körperteil, sondern der Seh-Sinn oder die Vision – mitunter weiter reicht, als es die physischen Augen der Person vermögen, und auch verborgene Dinge oder Geschehnisse auf Distanz erkennen und erklären können. Menschen, die das „zweite Gesicht“ haben, galten in früheren Zeiten oft als unheimlich und waren gesellschaftlich eher ausgegrenzt, da man ihre Kräfte fürchtete und in ständiger Angst vor dem Okkulten lebte, das durch den Aberglauben und kirchlichen Fanatismus in die Ecke des Verbrechens gerückt wurde. Ein bis heute noch bekannter Magier mit der Gabe des „zweiten Gesichts“ war zum Beispiel Dr. John Dee, der Hofmagier der britischen Königin Elisabeth I., und sein Medium Edward Kelly. Diese und andere paranormal begabte Menschen haben zu ihren Lebzeiten für Aufsehen gesorgt und wurden nach ihrem Tod zu einer Legende dessen, was dem Menschen möglich ist auf dem Gebiet des Unwahrscheinlichen.

Es gibt eine inhaltliche Ähnlichkeit zwischen dem so genannten „zweiten Gesicht“ und dem „sechsten Sinn“, der im Volksmund auch eine hellsichtige Begabung der Person bedeuten soll. Der „sechste Sinn“ ist jedoch kein körperlicher Sinn wie die bekannten anderen fünf Sinne Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, sondern eine außerkörperliche Wahrnehmung von Informationen. Man sagt daher von einer Person, sie habe den „sechsten Sinn“, wenn sie oder er Informationen empfängt, die durch die Vermittlung der fünf Sinne scheinbar nicht zustande gekommen sein können. Im Gegensatz zum „zweiten Gesicht“ ist der sprichwörtliche sechste Sinn jedoch eher ein Momentgeschehen oder ein spontaner Einfall, während das „zweite Gesicht“ als eine stabile und dauerhafte Begabung und Eigenschaft einer Person gelten kann. So sagt etwa ein cleverer Unternehmer, er habe einen sechsten Sinn fürs Geschäft oder für gute Investitionen – jedoch sicher nicht, er habe das „zweite Gesicht“. Von einem „zweiten Gesicht“ spricht man wirklich nur dann, wenn die Person dauerhaft eine paranormale Begabung beweist und oft auch beruflich auf diesem Gebiet tätig ist und zum Beispiel als esoterischer Lebensberater Menschen berät und spirituell orientiert. Heute ist dieser Sprachgebrauch jedoch veraltet und die meisten Menschen, die paranormale Fähigkeiten besitzen, bezeichnen sich einfach als hellsichtig oder hellfühlig.


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